2 Unser Alltag ist eine Herausforderung für unsere Beziehung

Beispiel 1:
Tatiana und Thomas sind seit sieben Jahren ein Paar und leben seit fünf Jahren zusammen. Es waren gute und über weite Stecken unbeschwerte Jahre. Beide sind zufrieden mit ihren jeweiligen Berufen, Tatiana als Ärztin und Thomas als niedergelassener Physiotherapeut mit einem Team von 5 Angestellten. Beide betätigen sich gerne sportlich und haben als gemeinsames Hobby vor zwei Jahren das Golfen entdeckt. Im Verlauf des letzten Jahres wandern Tatianas Gedanken immer häufiger in Richtung Familiengründung. Mit 37 Jahren findet sie es einen guten Zeitpunkt und, seit sie im Herbst Tante des kleinen Lars geworden war, spürt sie, wann immer sie ihren Bruder und ihre Schwägerin mit dem Kleinen trifft, dass aus einer Überlegung langsam aber sicher eine Sehnsucht wird.
Sie geht davon aus, dass Thomas ähnlich denkt. In den Anfängen ihrer Beziehung hatten sie einmal kurz über dieses Thema gesprochen und Thomas hatte damals gemeint, dass er auf jeden Fall irgendwann Vater sein möchte. Wenn Tatiana ihn mit Lars auf dem Arm sieht, muss sie schmunzeln. Sie werden sich bestimmt gut in ihre Elternrolle einfinden können.
Auf der Rückfahrt vom traditionellen Weihnachtsbesuch bei Tatianas Eltern drückt sie Thomas´ Hand und meint: „War das nicht schön? Weihnachten mit einem Kind hat einen ganz besonderen Zauber, auch wenn es noch so klein ist, findest du nicht?“ Thomas, der gerade im Handschuhfach nach einer CD kramt, stimmt zu. „Was meinst du, sollen wir Lars einen kleinen Cousin bescheren? Oder eine Cousine?“ Thomas nickt. „Klar. Aber das hat ja noch Zeit, oder?“ Tatiana ist irritiert und das darauffolgende Gespräch stimmt sie sehr nachdenklich. Ihre Nachdenklichkeit wirkt auch noch in ihr fort, als sie spätabends wieder zu Hause mit langsamen Bewegungen die Rollläden herunterlässt. Sie rekapituliert noch einmal Thomas´ Aussagen. Der zentrale Punkt war, dass er sich noch nicht bereit fühlen würde, um Vater zu werden. Grundsätzlich ja, aber noch nicht jetzt. Wann es so weit sein würde und woran er das merken würde, konnte er nicht sagen. Und auf Tatianas Hinweis, dass sie zunächst ohnehin ihre Hochzeit feiern wolle, hatte er regelrecht gereizt reagiert: Das fände er jetzt aber altmodisch. Sie hätten in den letzten sieben Jahren doch hinreichend gut als Paar funktioniert und er würde keinen Anlass sehen, diesen ganzen Hochzeitswahnsinn mitzumachen.
Das neue Jahr beginnt sowohl bei Tatiana als auch bei Thomas mit ziemlicher Hektik, aber Tatianas Gedanken wandern immer wieder zu ihrem Gespräch während der Heimfahrt von ihren Eltern. Sie ist unglücklich. Sie kann es drehen und wenden, wie sie will: Thomas möchte nicht heiraten und wann er Kinder haben möchte, kann oder will er ihr nicht sagen. Sie hat das Gefühl, dass ihre Welt einen Riss bekommen hat. Trotzdem will sie nicht glauben, dass das Thomas´ Ernst ist. Wenige Wochen nach Weihnachten spricht sie ihn noch einmal auf das Thema Familie an, aber dieses Gespräch bringt keine Veränderung. Im Gegenteil: Thomas reagiert sogar recht ungehalten. Er fühle sich unter Druck gesetzt und dazu habe sie kein Recht, auch wenn er nachvollziehen könne, dass ihre biologische Uhr zu ticken begonnen habe. Er wäre ja nicht generell gegen Kinder, aber er weigere sich schlicht, sich auf einen Zeitplan festlegen zu lassen.
Nach diesem Gespräch ist alles anders. Tatiana zieht sich in ihr Schneckenhaus zurück. Nicht aufgrund einer Überlegung - es geschieht einfach. Sie empfindet eine tiefe Enttäuschung. Ihr fragloses Vertrauen in eine glückliche gemeinsame Zukunft ist verschwunden. Wenn Thomas körperliche Nähe herstellen möchte, spürt er, wie seine Partnerin auf Distanz geht.
Die Monate vergehen und an ihrem 38. Geburtstag schreibt Tatiana Thomas einen langen Brief. Sie teilt ihm mit, dass, wenn ihre Beziehung keine Perspektive in Richtung Ehe und Kinder hat, sie sich gezwungen fühlt, sich von ihm zu trennen. Sie schreibt auch, dass ihre Liebe zu Thomas zwar erschüttert ist, aber trotzdem nach wie vor vorhanden - und dass das Schönste für sie wäre, wenn Thomas sich für sie und eine gemeinsame Familie entscheiden würde.
Thomas kommentiert den Brief zunächst nicht. Er ist sauer, weil er sich nicht mehr geliebt fühlt – schon seit Monaten schlafen sie kaum mehr miteinander. Er fühlt sich erpresst. Er fühlt sich eingeengt. Und er sieht keinen Weg, um ihre so gegensätzlichen Vorstellungen zu harmonisieren.
Tatiana und Thomas trennen sich ein halbes Jahr später. Die Trennung geht nicht spurlos an ihnen vorüber. Tatiana kämpft lange mit dem Gedanken, dass, entgegen ihrer Annahme, Thomas sie wohl nicht so sehr geliebt hatte, wie sie ihn. Denn hätte er sie wirklich geliebt, hätte er sich eine Familie mit ihr gewünscht. Thomas fühlt sich zunächst wie von einem Joch befreit, aber diese Erleichterung ist kurzlebig. Eine gewisse Leere bleibt zurück und der vage Verdacht, dass er etwas Kostbarem zu wenig Beachtung geschenkt haben könnte.

Beispiel 2:
Linda und Oliver sind seit kurzem verlobt und wollen bald heiraten. Linda ist einige Jahre älter als ihr Verlobter. Sie arbeitet seit mehreren Jahren als Sprachtherapeutin und hat sich auf Schlaganfallpatienten spezialisiert. Oliver ist noch im Studium und hat große Pläne. Seine Zielstrebigkeit und Ernsthaftigkeit haben Linda von Anfang an imponiert und sind für sie Ausdruck seiner Reife.
In ihrem jeweiligen Freundeskreis ist die Resonanz auf ihre Heiratspläne durchweg positiv, wenn auch einige von Olivers Freunden finden, dass er sich mit einer Heirat ruhig noch etwas Zeit hätte lassen können. Aber - wenn er die Richtige gefunden hat, warum nicht? Eine Freundin von Linda, mit der sie auch in der logopädischen Praxis zusammenarbeitet, gibt ihnen den Rat, sich auch zu überlegen, ob und wann sie Kinder haben möchten. Sie kennt Linda gut und weiß, dass ihre Freundin seit geraumer Zeit an Familiengründung denkt.
Die Beschäftigung mit diesem Thema entzweit sie fast - und damit haben beide nicht im Traum gerechnet! Linda möchte so bald wie möglich Kinder haben, Oliver jedoch nicht. Er hat genaue Vorstellungen von seiner Karriereplanung und kann sich nicht vorstellen, eine Familie zu gründen, bevor er nicht „fest im Sattel“ sitzt. Linda findet es zwar grundsätzlich gut, dass ihr Verlobter ambitionierte Pläne hat - aber so lange zu warten, bis Oliver nicht nur sein Jurastudium, bei dem er schon im letzten Drittel ist, sondern auch noch ein Wirtschaftsstudium abgeschlossen hat, das er noch gar nicht wirklich begonnen hat: Diese Vorstellung findet sie absolut unangemessen. Länger als zwei Jahre will sie nicht mehr warten. Und das sagt sie Oliver auch genau so. Beide sind nach diesem Gespräch gleichermaßen erschüttert.
Lindas Freundin und Kollegin entgeht ihr plötzlicher Stimmungsumschwung natürlich nicht und in der Mittagspause fragt sie nach, was denn passiert sei. Nach kurzer Überlegung gibt sie Linda schließlich den dringenden Rat, dieses Thema noch vor der Hochzeit zu klären: „Sonst ist euer Unglück vorprogrammiert!“