2 Unser Alltag ist eine Herausforderung für unsere Beziehung

Beispiel 1:
Waltraud und Wolfgang sind in zweiter Ehe verheiratet. Wolfgang hat aus erster Ehe drei Jungs, die schon erwachsen und aus dem Haus sind. Um seine erste Ehe oder besser gesagt: das, was sie zum Scheitern gebracht hat, zu verarbeiten, hat er sich intensiv mit den Themen Gewalt und Sucht beschäftigt. Dabei stieß er irgendwann auf eine 2jährige Weiterbildung, die er nach einigem Überlegen und mit Waltrauds fortgesetzter Ermutigung dann auch tatsächlich gemacht hat. Damit könnte er nun als Berater arbeiten und obwohl er ursprünglich, als er die Ausbildung begann, vor allem sein eigenes Handeln hatte besser verstehen wollen, verspürt er in letzter Zeit zunehmend das Bedürfnis, seine Kompetenz auch anderen zur Verfügung zu stellen. Und er hat auch schon eine Idee.
„Hör mal Waltraud, ich habe nachgedacht. Dieses Wissen, das ich mir angeeignet habe - ich weiß, dass es für betroffene Menschen ungemein wichtig wäre, das zu wissen, was ich heute weiß. Ich habe mir verschiedene Wege überlegt. Fest steht für mich, dass ich mein Wissen nicht für mich allein behalten mag. Es gäbe da verschiedene Möglichkeiten. Könntest du mich dabei unterstützen?“ Waltraud war in Gedanken gerade bei der für morgen angesetzten Besprechung mit ihrem Teamleiter am Arbeitsamt und antwortete etwas zerstreut: „Wie soll ich dich denn dabei unterstützen?“ „Ich möchte einen anonymen Weg der Beratung anbieten, Internet-Beratung. Denn ich weiß ja aus eigener Erfahrung, dass die Hemmschwelle ungemein hoch ist, in irgendeine Beratungsstelle zu gehen. Könntest du für mich eine Internetseite gestalten, du kennst dich doch damit aus?“ „ Ach Wolfgang, du weißt nicht, wie viel Aufwand dahinter steht, um eine irklich hochwertige Internetpräsenz aufzubauen. Ich unterrichte Webbdesign, das stimmt, aber eben für Einsteiger. Und dann muss so eine Seite ja auch noch bekannt gemacht werden. Und du hängst Tag und Nacht mit der laufenden Betreuung dran und dann tauchen irgendwelche Spinner auf und hinterlassen perverse Einträge - nein, ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist.“ Wolfgang ist enttäuscht. Natürlich ist es Arbeit, natürlich könnte es sein, dass einige wenige Unsinniges hinterlassen würden - aber gleichzeitig, und das wiegt viel schwerer, findet er, könnte er verzweifelten, beschämten Menschen einen ersten wichtigen Halt geben. „Ich finde einfach, wir sollten etwas Sinnvolleres tun, als einfach so von einem Tag auf den anderen zu leben und einmal im Jahr in Urlaub zu fahren. Was bleibt denn von uns übrig, wenn wir mal nicht mehr da sind?“ Er versteht Waltraud nicht, bisher hat sie ihn immer bestärkt, gerade auch bei dieser Ausbildung. Er war an einem Tiefpunkt seines Lebens gewesen, als er damals den Kurs über Java bei Waltraud absolviert hatte. Mit Mitte 40 und bei der gegebenen Arbeitsmarktsituation würde es schwer werden, in seinem Job neu Fuß zu fassen. Sie hatte ihm Mut gemacht, ihn begleitet und später, als der Kurs lange beendet war und er eine freiberufliche Stelle gefunden hatte, war sie es gewesen, die ihn bestärkt hatte, an seinen Themen dran zu bleiben. Und jetzt? Waltraud spürt seine Verletztheit, aber gleichzeitig ist sie langsam ein wenig sauer: „Ach du und deine komischen Ideen. Meinst du nicht, dass ich und du, gerade doch auch du, es sich wirklich verdient haben, endlich einmal das Leben nur zu genießen, nach all dem, was war? Lass das doch hinter dir! “
Wolfgang fühlt sich unverstanden. Sicher, ihrer beider Leben ist sorgenfrei, Waltrauds Kinder haben ihn als Teil der Familie akzeptiert, sie können sich mittlerweile sogar Urlaube leisten - aber eigentlich ist ihr Leben auch irgendwie sinnlos. Er könnte es Waltraud nicht begreiflich machen, er versteht selbst nicht so genau, warum ihm das mit der Internet-Seite so wichtig ist. Er ist doch glücklich mit ihr und mit seiner Ehe, es ist nur, dass etwas Wichtiges fehlt, das spürt er genau. Es geht im Leben nicht einfach nur um einen selbst. Waltraud denkt währenddessen: Hört denn die Schufterei nie auf? Kann er denn nicht einfach all das Gute das wir uns erarbeitet haben, nur genießen, wie jeder normale Mensch das auch tun würde? Sie fühlt sich müde und unglücklich.

Beispiel 2:
Claudia hat zuerst gezögert, aber dann hat sie sich gefreut, als sie die Einladung zur Eröffnung unter neuer Trägerschaft erhielt, die ihre alte Mädchen-WG ihr geschickt hatte. Diese WG war eigentlich ein kleines Mädchen-Wohnheim gewesen, in dem 8 Mädchen teils über Jahre zusammengewohnt hatten. Betreut von Pädagoginnen und Sozialarbeiterinnen und finanziert vom Jugendamt, war der unscheinbare 70er Jahre-Bau in einem Außenbezirk der Kleinstadt die Heimat gewesen, die Claudia bis dahin nicht gehabt hatte. Sie war 14 gewesen, als sie einzog, und als sie mit knapp 19 Jahren auszog, hatte sie nicht nur eine abgeschlossene Berufsausbildung in der Tasche, sondern vor allem auch eins gelernt: Sie war nicht das nutzlose, dumme, störende Kind, das am besten nicht geboren worden wäre, wie sie es bis dahin regelmäßig zu hören bekommen hatte. Sie war wichtig. Sie hatte Talente. Sie konnte lernen, für sich zu sorgen und gut zu sich zu sein. Und zu anderen auch. Versonnen drehte sie die Einladungskarte in ihrer Hand. Sie würde am Abend ihrem Mann davon erzählen und sie würde nächste Woche zu der Veranstaltung gehen.
Roland hörte ihr schweigend zu, als sie ihm abends von ihrem Vorhaben berichtete. Er sah ihren kleinen Sohn an, als er schließlich sagte: Na, du musst wissen, ob du noch mal dahin zurück willst. Claudia musste schmunzeln. Sie hatten sich in ihrem 2. Ausbildungsjahr kennen gelernt und die Hausordnung hinsichtlich männlicher Besucher war schon ein wenig streng gewesen. Obwohl sie in ihrem Zimmer eine gewisse Privatsphäre genossen hatten - Übernachten im Haus war nicht möglich gewesen und so hatte sich ihr Liebesleben eben andere Orte suchen müssen ... Bestimmt dachte Roland an die vielen tränenreichen Abschiede und konnte deshalb nicht so recht verstehen, warum sie der Einladung folgen wollte. Aber andererseits: er war auch nicht bei den vielen Gesprächen dabei gewesen, die sie mit ihrer Betreuerin geführt hatte. Über sich und Gott und die Welt. Das war wirklich gut gewesen. Sie würde gehen.
Und als sie eine Woche später reichlich spät abends nach der Veranstaltung nach Hause kam, war sie richtig aufgedreht. Und auch ein wenig durcheinander. Es war etwas passiert. Sie war gefragt worden, ob sie in dem neu gegründeten Trägerverein im Vorstand mitarbeiten wolle. Zuerst hatte sie nur stumm den Kopf geschüttelt, aber als sie dann länger zugehört hatte - über die Schwierigkeit, jemanden zu finden, der sich sozial einbringen wolle - da hatte sie irgendwann gedacht: warum eigentlich nicht? Von den Frauen, die versammelt waren, war sie die einzige der „Ehemaligen“, die gekommen war. Die einzige, die wusste, wie es sich anfühlte, in der WG zu wohnen, wo die Bedürfnisse lagen. Die einzige auch, die aus eigener Erfahrung sagen konnte: Es hat mir geholfen, hier zu wohnen. Die Arbeit, die hier getan wird, hat mir eine Chance auf ein gutes, selbstbestimmtes und unabhängiges Leben gegeben. Und so hatte sie schließlich zugestimmt. War aufgeregt und trotz der Nervosität auch mit Vorfreude mit der S-Bahn nach Hause gefahren und hatte sich immer wieder gedacht:
Das ist richtig so. Das war die richtige Entscheidung. Roland fiel aus allen Wolken, als sie ihm vom Verlauf des Abends berichtete. „Bist du verrückt? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Als Teil von so einem Verein musst du sicher finanziell grade stehen, wenn was den Bach runtergeht. Oder denen fehlt eine Erzieherin und du musst dann irgendwelche durchgeknallten Mädels abends aus ihrer Lieblingskneipe holen. Sei doch froh, dass du da raus bist! Wir haben das hinter uns. Ich mach Überstunden, damit wir uns ein Reihenhaus leisten können in ein paar Jahren. Du arbeitest stundenweise, du hast Leon, wir wollten mit einem zweiten auch nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag warten - und jetzt kommst du mit so was?“ Er sah sie wütend an. Claudia musste erst mal schlucken. So eine lange Rede kannte sie von ihrem Mann sonst gar nicht. Was musste er sich so aufregen. Schließlich war es ihr Risiko und nicht seins. Er hatte vielleicht nichts zurückzugeben - aber sie schon, denn ohne diese WG würde es sie heute so nicht geben. Und ihre kleine Familie auch nicht! Sie spürte wie sie ebenfalls wütend wurde. Kampflustig sah sie Roland an.